Endogene Malerei
 

Jeder zehnte Mensch, der je gelebt hat, lebt jetzt.
Dieses Verhältnis ist für mich genauso erstaunlich wie die Vorstellung, daß die ungeheuren Umwälzungen unseres Daseins erst vor ca.150 Jahren begonnen haben, als die Entstehung der Erde noch auf das Jahr 4004 vor Christus datiert wurde.
Wir, als zehntes Zehntel, leben mit einem völlig anderem Bild von der Erde als die neun Zehntel zuvor.
Wenn wir allein schon das Wort „Erde“ aussprechen, schwebt vor unseren Augen etwas zuvor nie Vorgestelltes: der Anblick der Erde als Ganzes, als blau-weisser Planet im grenzenlosen Schwarz, betrachtet aus lautloser Ferne des Alls.
Was ist also völlig anders als je zuvor, was hat unser Welt- und Menschenbild stärker verändert als alles andere?
Vielleicht das Verhältnis dessen, was wir von der Welt aus eigener Erfahrung wissen, zu dem, was wir überhaupt alles „ von Ferne“ wissen.
Nehmen wir an, eine Sache erscheint uns um so realer, je unmittelbarer und erkennbarer unser eigener Einfluß auf diese ist, und umgekehrt, der Einfluß dieser Sache auf uns selbst. Nehmen wir an, ein Realitätsgefühl entsteht durch die Überprüfbarkeit der eigenen Wirkung auf Lebewesen und Materie und umgekehrt, d.h.es entsteht durch die Nachvollziehbarkeit der Beziehungen, und zwar in beide Richtungen: dann verschiebt sich dieses Kräfteverhältnis immer mehr zu der anderen Seite, in Richtung der Unmenge von dargestellten Faktoren, die auf uns zielen, ohne daß wir ihnen eigene Kräfte entgegen zu setzen haben.
In diesem Sinne gibt es zwar nicht weniger Reales als zu früheren Zeiten. Es ist verfehlt zu behaupten, unsere jetzige Welt bestehe nur noch aus Simulationen und Virtualitäten. Wir lieben noch, wir setzen Kinder in die Welt, wir hantieren noch mit Werkzeugen und Waffen, wir erweitern sogar unsere Erlebnisse an Orten und in Situationen, zu denen die Menschen früher keinen Zugang hatten. Aber der Anteil dessen, was wir zu Gesicht bekommen, ohne es je berührt zu haben, dehnt sich aus wie das Universum selbst.
In früheren Zeiten wurden auch schon die Kammern des eigenen Bewußtseins durch Vermittlungen fremder Vorstellungen erweitert. Vor der Erfindung der technischen Abbildungsverfahren wurde jedoch fast alles Wissen und alles Fiktive durch Erzählungen, Texte oder handbebilderte Schriften vermittelt. Durch die gleichzeitige Zunahme von Texten und Menschen, wird aber rein rechnerisch jeder Artikel und jedes Buch, prozentual immer weniger Leser finden. Die veröffentlichten Bilder hingegen werden von immer mehr Menschen gesehen, und immer mehr Menschen sehen dieselben Bilder.
Die Bilder vermindern nicht unbedingt unsere eigenen Erfahrungen, aber sie verändern sie, und die vermittelten Erfahrungen übersteigen jene, die wir selbst gemacht haben, in immer verwirrenderem Maße.
Verwirrend deshalb, weil wir damit überfordert sind, all das, was uns erreicht, zu uns in Beziehung zu setzen, unsere seelische Verfassung davor zu schützen, nicht durch vermittelte Bilder und Informationen stärker bestimmt zu werden als durch die unmittelbaren Lebensumstände. Was geht mich an und was nicht?.

Nennt mir etwas, das ich noch nicht gesehen habe.
Jeder, der so aufgewachsen ist wie ich, mit Fernsehen, Kino und „Geo“, hat alles gesehen.
Kein Ding, kein Ort, von dem nicht ein Abbild verfügbar wäre.
Auf allem und jedem glimmen die roten Laserpunkte der Kameras. Sie masern das Baby von Madonna wie die Stirn des Elefanten in der Dämmerung am entferntesten namibischen Wasserloch.
Wir waren in allen Kontinenten, am Meeresboden, unter den Vulkanen, auf dem Mond und dem Mars, bei den Sauriern, den Vormenschen, den Römern und den restlichen neun Zehnteln der Menschheit.
Uns zeigt sich sogar das Unsichtbare, in Bilder von Eizellen und Viren, von sterbenden Sternen und Planetengeburten in Entfernungen von zehn Millionen Lichtjahren! Es gibt Bilder von Schall und Wärme, vom Innern der Sonne und von tödlichen Strahlen. Es gibt Bilder von Gedanken-Gängen und Traumphasen, es gibt „Fotografien“ von den abstraktesten mathematischen Formeln wie physikalischen Wahrscheinlichkeitsberechnungen von Elektronenpositionen in einem Helium-Atom.

Diese Bilder ziehen nicht folgenlos an uns vorüber, wie immer wieder behauptet wird, als ferne Ornamente mit abstrakten Informationen, als kurzlebige Unterhaltungen und Zerstreuungen.
All diese Bilder, verbunden mit ebenso „glaubwürdigen“ Kommentaren, beeinflussen nachhaltig unser Selbst-Bewußtsein und unsere Vorstellung von Realität, in dem sie uns vor Augen führen, was alles Wirkung auf uns haben kann, und zwar unabhängig davon, ob wir uns darüber bewußt sind oder nicht - oder überhaupt in der Lage, es mit den eigenen Sinnen wahrzunehmen. Sie suggerieren uns die Existenz und den Einfluß von Wirklichkeiten, die wir in keiner Weise mehr überprüfen und nachvollziehen können in oben genannter Weise.
Im günstigen Fall schärfen sie über unseren Wirklichkeitsinn hinaus einen umsichtigen Möglichkeitssinn, besonders für die Folgen eigener Handlungen und Eingriffe, deren weitreichende Auswirkungen oft vorläufig im Dunkeln bleiben.
Aber was weiß ich wirklich, wovon weiß ich überhaupt etwas oder mehr als zuvor, in Anbetracht von schwarzen Löchern, roten Riesen und weißen Zwergen ?
Wie viele Darstellungen verkrafte ich noch von Kräften, die an mir zerren und nagen? Wie verändern mich die Bilder, die ich nicht sehen wollte, die ich nicht mehr los werde?
Dennoch will ich noch mehr davon. Jeden Abend schalte ich den Fernseher an und öffne mich dem Bilderstrom: Nachrichten, Dokumentationen, Spielfilme, Fakten und Fiktionen.
Es spielt keine Rolle, ob die Bilder „wahr“ sind oder gefälscht, die Bildgeschichten realistisch sind oder fiktiv, gegenwärtig oder vergangen:- auf der Ebene der Wirkungen, die sie haben können, sind sie folgenschwer, nämlich in der Beeinflussung der Gemüter, der Urteile und Handlungen, als die sie in meine „Wirklichkeit“ und die der Anderen eingreifen.
Welches Kind wäre heute noch überrascht über tatsächlich gelandete Aliens?
Woche für Woche startet ein neuer Film, der die Gewöhnung an die bevorstehende Verschmelzung von Menschen mit Maschinen vorbereitet.
Nicht wenige Menschen nehmen intensiver Anteil an den stereotypen Schicksalen ihrer Lieblinge in den Seifenopern als am Leben ihrer direkten Nachbarn oder sogar an den Gefühlen ihrer Familienmitglieder.
Es gibt unzählige Beispiele, wie die Fiktionen Willen und Vorstellungen lenken.
Alles Vermittelte kann Wirkung entfalten, das Wahrscheinliche wie das Unwahrscheinliche, das Echte wie das Falsche.

Als Hintergrund für meine Arbeit interessiert mich am Rande auch diese tägliche Manipulierbarkeit durch Bilder, ihre Verbreitung in der deutlichen oder verborgenen Absicht, zu unterhalten, zu informieren, zu überzeugen oder gar zu täuschen. Aber das Täuschen ist eine gesonderte menschliche Leistung, und die Möglichkeiten der Medien sind so perfekt wie bekannt.
Mich interessieren aber in Hinblick auf meine Malerei mehr noch die Eigenanteile der für die jeweiligen Abbildungszwecke verwendeten Verfahren und Apparaturen, die sich automatisch und vielfach unbemerkt in die Abbildungen integrieren .Auf solche Weise gehen sie in unsere Auffassungen des Dargestellten ein, möglicherweise unabhängig von den Absichten des Bildherstellers dahinter.
Dies läßt sich gut veranschaulichen am Beispiel der wissenschaftlichen Darstellungen. Diese können am ehesten im Vergleich mit anderen Abbildungen der Wirklichkeit in idealisierender Weise eine „Unschuldsvermutung“ in Anspruch nehmen, wenn man unterstellt, daß der größte Teil der wissenschaftlichen Abbildungen mit aufklärerischen Absichten hergestellt wird, mit dem Willen zur Objektivität und Überprüfbarkeit, auf der Suche nach „Wahrheit“ oder zumindest der Erkenntnis der wahrscheinlichsten Ordnung der Dinge, verbunden mit dem Anspruch einer exakten und detailgetreuen Wiedergabe.
Ich glaube, daß sich die Schlußfolgerungen über die wirklichkeitserfassenden Eigenschaften auf der einen Seite von wissenschaftlichen Abbildern, und den selbstreferentiellen auf der anderen, erst recht auf solche Darstellungen übertragen lassen, die von vorneherein mit einer zusätzlichen oder gegensätzlichen Absicht verbreitet werden.
Was in den Naturwissenschaften entdeckt oder entschlüsselt worden ist, wird, wenn dies nicht ohnehin schon mit entsprechenden Optiken geleistet wurde, mit Abbildungen vermittelt. Nahezu alles, was erforscht, gemessen, berechnet oder verfolgt wird, als Welle oder Teilchen, muß anschaulich dargestellt werden, um es zu erklären, zu veröffentlichen, zu vermarkten.
Zu diesem Zweck werden sowohl Abbildungsverfahren verwendet, die unserem Sehen annähernd entsprechen, wie Photographie oder Film, aber zunehmend auch solche Wahrnehmungssysteme, die unsere Sinne in Dimensionen verlängern, in die diese nicht einmal mehr ansatzweise vordringen.
Als Betrachter verläßt man sich hier erst recht auf Zeugnisse, die man nicht mehr überprüfen kann, nämlich vom „Aussehen“ des Unsichtbaren.
Aber was sehen wir eigentlich auf Röntgenbildern, Kernspintomographien, Thermographien, Rastertunnelelektronenmikroskopien etc.?
Jede Apparatur zur Sichtbarmachung von Lebewesen oder Gegenständen jenseits der Sichtbarkeit hat ihre eigenen Bedingungen, verlangt eine spezifische Präparierung des Abzubildenden. Manche Abbildungsverfahren benötigen ein Vakuum, in dem jedes Leben abgetötet wird, andere ermöglichen Aufnahmen von beweglichen „Objekten“, die sich dem entsprechend ganz anders zeigen, aber auch wieder verändert verglichen mit ihren Erscheinungen in ihrem natürlichen Kontext. Viele Verfahren erfassen die Objekte im Licht, manche messen nur Resonanzen, das Echo von Strahlen und Schwingungen.
Es liegt die Frage nahe, ob wir auf einem Abbild eines darzustellenden Objektes eine von der Darstellungs- und Betrachtungsweise unabhängige Eigenschaft des Objektes erkennen können, oder nur eine visuell übersetzte, spezielle Wechselwirkung zwischen dem Objekt und dem Gerät, das es „wahrnimmt“.
Sehen wir also mehr von den Eigenarten des Objektes oder sehen wir eher das Produkt eines bestimmten Zugriffes, einer Annäherung, einer Aufbereitung und Zurichtung des Darzustellenden?
Die Oberfläche eines Bakteriums z.B. hat in Abhängigkeit des gewählten Maßstabes und des Auflösungsvermögens der angewandten Technik, -das ist die Fähigkeit, zwei Objektpunkte voneinander zu unterscheiden-, eine völlig andere Anmutung.
Bei dem einen Verfahren zeigt sich die Gestalt, bei einem anderen seine porige „Haut“, beim dritten vielleicht „schon“ die Verbindung seiner Moleküle.
Jenseits einer bestimmten Größenordnung, z.B. bei Viren, haben die Objekte keine „Farbe“ mehr, weil sie kleiner sind als die Wellenlänge des Lichts, d.h., die Photonen sind für die Abbildungen bei dieser „Nahsicht“ zu „körnig“! Licht, das hier auf die Linse einer Optik fallen würde, enthielte gar keine Informationen mehr über das Objekt, weil dieses kleiner ist als seine Wellenlänge.
Dennoch sind Viren sichtbar zu machen: wir erhalten trotzdem ein Bild mit dem Charakter eines Farbphotos. Dabei bedeutet Photographie übersetzt :„Lichtbildnis“.
Der geeignete Apparat, der das Bild liefert, ist das Rasterelektronenmikroskop. Es mißt die Resonanz eines Elektronenstrahls auf der Oberfläche des Virus. Ein Computer verarbeitet die aufgefangenen Impulse zu Pixeln, die auf eine isomorphe Weise für das menschliche Auge Punkt für Punkt ein Schwarz-Weiß-Bild zusammensetzen. Ein Grafiker coloriert einzelne Partien oder „beleuchtet“ sie, um die Unterscheidbarkeit und die Signifikans in Abhängigkeit vom jeweiligen Zweck der Abbildung zu erhöhen. Dafür gibt es bis heute keine verbindlichen Regeln, und auch diese würden allenfalls eine Vereinheitlichung der Willkür bedeuten.
Wir sehen also dennoch Objekte aus Entfernungen und Dimensionen, in der sich alles Materielle in Energie aufzulösen scheint, in einzelne Punkte und Zwischenraum.

Was bedeutet es demnach, eine Sache aus der Nähe zu betrachten, was ist angemessen distanziert oder detailliert?
Haare, diese in Fülle wunderbare, geschmeidige und glatte Masse, verwandeln sich bei 1500facher Vergrößerung einzeln in schuppige Raspeln. Ihre Eigenschaft schlägt um ins Gegenteilige.
Hat ein Objekt, das man umfassend und vollständig untersuchen und darstellen möchte, möglicherweise keine begrenzte Zahl von Eigenschaften, sondern immer wieder andere und weitere für immer wieder andere und neue Rezeptoren und Rezipienten? Haben die Dinge jeweils die Eigenschaften, die wir darzustellen in der Lage sind.
Ich möchte hier den Physiker Wolfgang Pauli zitieren:
„Die Vorstellung eines Objektes, das von der Art und Weise, wie es betrachtet wird, ganz unabhängig ist, stellt eine abstrakte Extrapolation dar, der nichts Wirkliches genau entspricht.“
Jede Darstellung, jeder Abbildungsvorgang ist in diesem Sinne selbst wieder eine Abbildung, nämlich seiner technischen Voraussetzungen ,den jeweiligen Zwecken, den Kenntnissen und den Absichten der Beteiligten.
„Kein Wechsel des Mediums ( sprich Mittels) wird jemals das Wesen der Vermittlung ändern. Eine Welt, die mit Hilfe immer ausgefeilterer Technik abgebildet wird, bleibt erstens per definitionem eine Abbildung und sagt zweitens ebensoviel über die Menschen aus, die diese Welt abbilden, wie über die widerspenstige Welt, die sich gegen dieses Abgebildetwerden sperrt. Wir verschaffen uns die Daten, in denen wir gerne leben möchten.“ (Richard Powers in Schreibheft 56, Zeitschrift für Literatur)
Können wir also nur Aussagen machen über Beziehungen und Wahrscheinlichkeiten? Basiert das, was für uns von Bedeutung ist, weniger auf Tatsachen, also auf allem, was der Fall ist, als auf den Darstellungen dieser Tatsachen und ihren Wechselwirkungen?
Wenn wir alltäglich nach Eigenschaften des uns Umgebenden fragen, dann fragen wir nach der Relevanz für uns, und zwar auf der Ebene unserer körperlichen und seelischen Maßstäbe. Können wir solche „Unschärferelationen“ aus dem Mikrokosmos übertragen, müssen wir das?
Es gibt Bestimmungen, die Aussagen machen über die Beschaffenheit des zuvor Unbestimmten. Es gibt Aussageweisen zu Gattungen, zu Arten. zu artbildenden Unterschieden, zu Eigentümlichkeiten, die einer Sache notwendig zukommen müssen, um diese Sache zu sein, und zuletzt über zufällige Eigenschaften, die einer Sache nicht notwendig zukommen müssen, wie z.B. die Farbe Rot bei Haaren.
Auf dieser letzten Ebene werden Beziehungen wie Eigenschaften behandelt.
Für mich ist es keineswegs immer möglich zu unterscheiden, welche Eigenschaften einer Sache notwendig zukommen, welche nur zufällig, oder willkürlich, oder hauptsächlich, oder nebensächlich. Außerdem muß ich aufgrund der bewiesenen Vorläufigkeit aller Modelle davon ausgehen, das es noch weitere Eigenschaften gibt, die allerdings bis jetzt noch nicht nachgewiesen und dargestellt worden sind.
Wenn es sich so verhält, daß in dieser Welt alles auf alles wirkt, wie schwach und diffus die Wirkungen auch sein mögen, dann bedeutet das für mich, daß prinzipiell in jeder Deutung und Wertung, sprich Darstellung und Wiedergabe des Gegebenen ein Faktor der Vernachlässigung enthalten ist.
Als besonders realistisch und pragmatisch gelten allerdings solche Naturen, die behaupten, nur zu glauben, was sie mit eigenen Augen gesehen haben, und alles andere solange meinen vernachlässigen zu können.
Unser Auge ist aber unter bestimmten Gesichtspunkten auch nur eine komplexe Apparatur neben anderen zur Erfassung elektromagnetischer Schwingungen.
Bei Blinden fällt diese völlig aus, bei Farbenblinden funktioniert sie eingeschränkt, und das Rot ist für sie keine Eigenschaft der Haare. Die Sehenden unterliegen optischen Täuschungen. Biologisch ausgedrückt ist das Auge ein Loch um die Aussenwelt im inneren des Organismus abzubilden, ein vorgeschalteter, bereits selektierender (d.h., bereits viele Informationen vernachlässigender) Außenposten des Gehirns. Was wir sehen, ist in diesem Sinne auch nur eine Art von Darstellung durch die beteiligten Zellen und Neuronen. Dabei erfassen wir nur Strahlung innerhalb eines bestimmten Wellenlängenbereichs. Wir betrachten einen Menschen mit unseren Voraussetzungen, eine Photographie empfinden wir als ähnlich. Aber das Wärmemuster der Gesichtsoberfläche bleibt uns verborgen, im Gegensatz zu einem Apparat, der demnächst den Pförtner ersetzt und uns Einlaß gewährt oder nicht. Von da an ist unser Gesichtswärmemuster für uns von Bedeutung und eine unserer Eigenschaften bzw. Merkmale.
Ist das Eine weniger real und relevant als das Andere, nur weil es eher und mehr meinen Voraussetzungen und Wahrnehmungen entspricht? Vielleicht müssen wir bald unser natürliches, persönliches Sensorium aufrüsten, uns Apparate implantieren, um in der Kommunikation von Menschen und Maschinen mit Maschinen nicht den Anschluß zu verlieren.
Unsere Sinne liefern uns jedenfalls kein vollständiges Bild von der Wirklichkeit.

Der oben erwähnte Realist hat Botswana mit eigenen Augen gesehen und zeigt daheim begeistert seine Dias von Fauna und Flora. Einige Wochen später haben quirlige Würmer ihn von innen aufgefressen, ohne daß er sie je zu Gesicht bekommen hätte. Und auf seinen Photos waren sie auch nicht „drauf“. (Nebenbei: Angeblich sind nur 3-4% aller Arten größer als Bienen)
Die Menge von Kräften, die Einfluß auf uns haben, ohne daß wir sie überhaupt wahrnehmen, übersteigt gewiß bei weitem die Menge, die wir erkennen.
Und an dieser Stelle sind wir wieder bei den Bildern, die uns von hier aus weiterhelfen sollen, in dem sie uns vor Augen führen, in welchen Feldlinien wir uns permanent bewegen.
Gemäß einer bestimmten Auffassung entsteht die Welt in unseren Köpfen, sie konstituiert sich demnach erst im Bewußtsein. Vielleicht sind aber Welt und Weltbild zwei Räume, in denen man sich gleichzeitig bewegt, da der eine den anderen als kleine, veränderliche Teilmenge enthält.
Ultaviolette Strahlung z.B. war demnach bereits schon existent, bevor wir sie entdeckt haben. Zwar nicht benannt, nicht als Begriff und Gemessenes, aber als Energie, mit gleicher Wirkung auf den Organismus. Was sie für uns nicht hatte, war „Bedeutung“. Nach meinem Verständnis entsteht nur in diesem Sinne die Welt in unseren Köpfen: als Deutung dessen, was wir überhaupt wahrzunehmen in der Lage sind, mit unseren Sinnen und Geräten. Insofern gibt es so viele Welten verschiedenen Inhalts und Umfangs, wie es Köpfe gibt. Und auch innerhalb desselben Kopfes kann ein und derselbe Sachverhalt, ein singuläres Ereignis, aber auch die ganze Welt, zu verschiedenen Lebenszeiten völlig andere Bedeutung annehmen.
Wo unsere Wahrnehmungsfähigkeiten versagen, vermitteln uns also zunehmend die In- und Outputs von Apparaten die Vergangenheit oder Gegenwart dessen, was uns sonst unbekannt bleiben würde. Was uns die Bilder zeigen, bestimmt immer mehr die Vorstellung des so vor Auge Geführten, da ein eigener, direkter Zugang gar nicht möglich ist.
Es bedingen aber- wie oben erwähnt -die Abbildungsvorrichtungen den Zustand des Darzustellenden während der Betrachtung, wenn nicht bereits eine vorausgehende Präparation diesen Zustand schon nachhaltig verändert oder verunstaltet hat. Dies gilt nicht nur für die Messung von Elektronen. In diesem Sinne können wir die „Unschärferelation“ übertragen auf unsere Welt. So können und müssen wir den mit einbeziehen, der das Bild macht, für wen, warum, und mit welchen Mitteln.
Hinzu kommen außerdem die spezifischen Beigaben des verwendeten Mediums einerseits und seine blinden Flecke andererseits, die sich mit den Bildinformationen untrennbar vermischen, und sich auf diese Weise auch in unsere Auffassungen und Aussagen integrieren.
Ein Beispiel: vor kurzem habe ich erstmalig farbige Filmaufnahmen aus dem Dritten Reich gesehen. Ich war völlig konsterniert. Für mich ist diese Zeit immer auf düstere Weise schwarz-weiß gewesen, allenfalls mit einem Braunstich, aber damit auch entrückt, anschaulich längst vergangen, unwirklich wie die Kindheit meiner Eltern.
Angesichts einer Nazi-Parade im lichten Sommer wurde mir schlagartig klar -und der Schrecken noch größer-, daß natürlich auch damals der Himmel hellblau strahlte und die Gärten blühten. Die Filmaufnahmen haben diese Zeit, durch die Gabe von Farbe auf den blinden Fleck des nur Hell-Dunkel, wieder viel mehr mit meiner Gegenwart verbunden.
Es besteht die Möglichkeit, die Darstellungen einer Sache weitgehend für die Sache selbst zu halten, sie damit zu identifizieren: das, was den Darstellungen fehlt, da sie das Weitere nicht erfassen können oder sollen, zum Eigentümlichen des Gegenstands zu rechnen, ebenso wie umgekehrt das, womit die Darstellung durch die Wahl eines bestimmten Mediums mit dessen Wirkstoffen angereichert wird.
Es gibt keine „reinen“ Abbilder ohne diese Fremdstoffe und Zugaben, die sich einnisten in den Leerstellen und Zwischenräumen, dort, wo der Rest der Sache verloren geht oder vernachlässigt wird.
Das Lesen aller Bilder, egal welcher Art und mit welchem Medium vermittelt, setzt ein jeweils spezielles Vorwissen voraus oder zumindest mit dem Bild gleichzeitig gelieferte „Gebrauchsanweisungen“.
Dies gilt also nicht nur für die Bilder der Kunst, sondern für die gesamte alltägliche Flut, die uns so „selbstverständlich“ erscheint.

Das oben Ausgeführte bildet einen bestimmenden Hintergrund für die Arbeit der letzten Jahre mit den Gebilden, die meine bei der Malerei verwendeten Materialien in von mir in Gang gebrachten Prozessen eigendynamisch, sozusagen von selbst und „von innen heraus“ hervorbringen. Ich bin auf „Eigengewächse“ meines Mediums gestoßen, Formen und Gestalten aus Farbe, die sich selbst organisieren, die sich vorübergehend oder im Stillstand der Prozesse ergeben, wenn ich auf liegenden Flächen wie Glas, Folien oder Leinwände verschiedene Lacke ineinander gieße und sich dann innewohnende Kräfte trennen und entfalten, unter denen sich die biomorphen Gebilde entwickeln.
Den Anfang eines „Gemäldes“ bildet z.Zeit erst mal das Erzeugen dieser Strukturen auf der liegenden Leinwand. Was ich dabei an Kontrolle abgebe, gewinne ich an Komplexität. Ich verlasse mich nicht nur auf meine Fertigkeiten im Umgang mit dem Material, sondern auf die Hilfe und Eigenschaften des Materials selbst.
Mir geht es dabei nicht um den Effekt von unmalbar zerflossenen Farbschlieren, sondern um die Unvorhersehbarkeit der Ergebnisse im Detail, den Formfindungsprozeß auf der Ebene des Materials. Besonders interessieren mich dabei die Gebilde, die kryptischen Zeichen ähneln, wie diskrete Symbole oder ganze Textzeilen erscheinen, wie Botschaften des Materials, wie Codes eines Bildungstriebes der Stoffe.
Mit diesem Begriff bezeichnete 1855 zu Goethes Zeiten der Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge aus Jena dieses Phänomen, das heute weniger poetisch als Selbstorganisation definiert wird:
„Diese Kraft wird nicht durch ein Äußeres erregt oder angefacht, sondern wohnt den Stoffen ursprünglich inne und zeigt sich wirksam, wenn diese sich in ihren chemischen Gegensätzen ausgleichen, das heißt durch Wahlanziehung und Abstoßung verbinden und trennen. Ich nenne diese Kraft „Bildungstrieb“ und betrachte sie als das Vorbild der in den Pflanzen und Tieren tätigen Lebenskraft“.
Er selbst veranschaulichte diesen „Bildungstrieb“ in einem Katalog mit „ selbstständig gewachsenen Bildern“, wobei die einzelnen Beispiele aussahen wie Achat-Schnitte mit ihren konzentrischen Ringen.
Die, im doppelten Wortsinne, erhaltenen Strukturen auf meinen Bildgründen sind also Stillstände von Vorgängen, die dort stattgefunden haben, und zeigen eigentlich nur, woraus sie bestehen, nämlich geronnenen Lacken. Es handelt sich nicht um Abbilder. Die Gebilde sind allenfalls „Darstellungen“ in dem Sinne, wie sie die Kräfte veranschaulichen, durch die sie entstanden sind. Sie erwecken jedoch im Kontext der Malerei den Eindruck, etwas abzubilden, was es tatsächlich an anderer Stelle geben könnte.
Aber solch eine erhaltene Farbspur ist konkret, dort und nur dort physisch wirklich auf der Leinwand, auf der sie entstanden ist. Man kann auch sagen, sie ist ein Ding, wenn auch sehr flach, so doch körperhaft, bestehend aus vielen separaten oder zusammenhängenden Schellack-Tropfen, verdichtet, verdickt, getrocknet. Ein Gebilde aus z.B. roter Farbe: rote Farbe in und mit dieser Form , nur an sich selbst gebunden.
Mich interessieren besonders die Formen, die Farben annehmen können, ohne etwas Anderes darzustellen und zu repräsentieren als sich selbst, ohne in der dienenden Funktion von Figuration an Gegenstände gebunden zu sein: als Klecks, als Fleck, als Lache, als geronnene Spur, als Kruste etc.
Im All, in völliger Schwerelosigkeit, wabbelt ausgeschütteter Orangensaft als in sich bewegter und durch eigene Oberflächenspannung in und an sich gebundener Blop total befreit durch völlig entgrenzten Raum, als ewig taumelndes Gelb.
Das schwebt mir vor!
In dieser Form mache ich Farbe auf meinen Bildern zum „Gegenstand. Ich wähle aus den gezeugten Gebilden „gelungene“ Exemplare aus und „male sie ab“, vergrößert und mit scheinplastischer Wirkung, zum Teil auf denselben Leinwänden, auf denen die „Vorbilder“ entstanden sind. Ich setze sie neben, über und unter andere „Module“ der Moderne: Formen wie Kreise, Quadrate und Streifen, mit deren Hilfe von aller Gegenständlichkeit „befreite“ Farbe transportiert wurde. Dabei erzeuge ich aber wieder die von der Moderne ausgetriebene Illusion von Plastizität, Beleuchtung und Räumlichkeit.
Ich mache augentäuschene Malerei. Ich kombiniere stereotype Elemente der „abstrakten“ Malerei mit der Illusion von sich selbst, d.h., bestimmte Elemente kehren figurativ, wie reale Gegenstände wiedergegeben zurück. Mit der abweichenden Besonderheit gegenüber naturalistischer Malerei, daß die von mir verwendeten Materialien dabei von identischer Beschaffenheit sind wie das, was sie auf der Ebene der Stofflichkeit im Bild repräsentieren: Farben in verschiedenen Zuständen, verschieden behandelt, unterschiedlich aufgefaßt und in Szene gesetzt, auf der unscharfen Grenze zwischen Darstellung und Sein.
Tatsächlich male ich dabei (fast) nichts, was nicht ausschließlich seine Existenz in diesem Medium hat. Diese Malerei zeigt ihre Bildmittel, ohne ferne Gegenstände oder Orte vorzuführen, um dennoch den Eindruck eines gefärbten Fensters zu erzeugen, durch das der Blick die Oberfläche und Bildtiefe zugleich erfaßt.
Diese Bilder öffnen ihre eigenen Räume.
Sie erwecken den Eindruck, als gäbe es das, was auf ihnen zu sehen ist, irgendwo an anderer Stelle, als handele es sich um Darstellungen einer Wirklichkeit, für die die Malerei nur der Vermittler zu sein scheint und nicht die Ursache und Ort der Entstehung.
Rechteckigkeit der Formate und Anschnitte der „Motive“ sind hierfür nötige Hilfsmittel, sind aber gleichzeitig Elemente einer tradierten Malerei und sollen
auch genau dieser Reverenz erweisen im Sinne eines Verweises und einer Verbeugung:
denn die Malerei, und nach meiner Auffassung nur die Malerei, vermag genau dies:
sie verwandelt etwas anwesend Diesseitiges in etwas gleichzeitig „Jenseitiges“.
Alles dort auf der Bildoberfläche sichtbar Gemachte ist berührbar und doch zugleich anschaulich unerreichbar, scheint sich auf einer „anderen Seite" zu befinden.
Sie erzeugt den Eindruck einer Jenseitigkeit bei gleichzeitiger, deutlicher Beibehaltung ihrer physischen Präsenz. Dabei ist es für diesen Eindruck gleich, ob ich vor einem gegenständlichen Gemälde stehe, das eine ferne Landschaft für mich herbeiholt, oder vor einer monochromen Fläche, die ebenso einen, wenn auch maßlosen, Raum für mich öffnet.
Man kann mir vorhalten, ich sei fasziniert von obsoleten, ja nachhaltig diskreditierten, weil mißbrauchten Qualitäten des autonomen Bildes: von Aura und Transzendenz. Es ist noch schlimmer: mich begeistert gerade die augentäuschende Malerei, die mir diese einheitliche Illusion von Licht, Raum und Stofflichkeit vorgaukelt, mit Materialien, die gar nicht versuchen zu verbergen, von anderer Beschaffenheit zu sein als das, was sie repräsentieren. Eine dicke, fette, ölverschmierte Kruste wird so zum zarten Nackenflaum am Hals einer Frau. Das ist keine Mystifizierung von Kunst, auch keine (nach Duchamp) den Verstand beleidigende Verunklärung. Das ist die über die jeweilige Darstellung ihres lesbaren Gegenstandes hinausgehende und sich davon lösende „Meta- Allegorie“ der Malerei als solcher: daß alles jederzeit in etwas anderes verwandelt werden kann, daß sich tote Materie in „beseelte“ Materie verwandeln kann, und erst recht ganz plötzlich umgekehrt, Lebendiges und Belebtes in Totes, daß jeder Zustand nur ein vorübergehender und möglicher von unzähligen anderen, ebenso möglichen ist.

Stefan Laskowski